Ein holländisches Wunder? Reform des Sozialstaates und Beschäftigungswachstum in den Niederlanden. - pocketboek

Als am 24. November 1982 Die Führer des Gewerkschaftsbundes und des Dachverbandes der Arbeitgebervereinigungen, Wim Kok und Chris van Veen, verkündeten, daß sie ein Abkommen über "allgemeinverbindliche Empfehlungen zu Fragen der Beschäftigungspolitik" erzielt hätten, konnte niemand voraussehen, daß dies der Beginn einer neuen Ära in den holländischen Arbeitsbeziehungen sein würde. Später wurde das "Abkommen von Wassenaar" - nach dem Wohngebiet nahe Den Haag benannt, wo Van Veen wohnte und die Vereinbarung vorbereitet wurde- zum gefeierten Symbol des wiedergewonnenen Korporatismus. 1982 jedoch wurde die Außenwelt von der Vereinbarung vollständig überrascht. In den vorangehenden Jahren hatten sich alle an einen Fehlschlag nach den anderen gewöhnt. Seit der formalen Rückkehr zu freien Tarifverhandlungen im Jahr 1970 hatten die Dachverbände - immer angetrieben durch die Regierung - jedes Jahr versucht, eine Vereinbarung auszuhandeln. Nur einmal, 1972, waren sie dabei erfolgreich. Im Verlauf der anderen Jahre erzwang die Regierung nicht weniger als sieben Mal einen Lohnstopp oder eine Begrenzung der Lohnerhöhungen. Das "Abkommen von Wassenaar" wendete die Drohung eines weiteren Lohnstopps ab, und seitdem hat es keine weitere staatliche Interventionen mehr gegeben. Je länger das "Abkommen von Wassenaar" zurückliegt, um so mehr erhöht sich sein Status. Wassenaar ist für die holländischen Arbeitsbeziehungen der letzten fünfzehn Jahre das geworden, was Saltsjobaden (1938) für die schwedischen Arbeitsbeziehungen der fünfziger und sechziger Jahre war: der Ort, an dem die Dachverbände von Gewerkschaften und Arbeitgebern begonnen haben, sich an einem koordinierten und bipartistischen Modell allgemeiner Richtlinien für verantwortungsbewußte Tarifverhandlungen zu orientieren. Das Abkommen ist aber auch aus anderen Gründen berühmt. Erstens kennzeichnet Wassenaar die Rückkehr zu Lohnzurückzahlung als der primären gewerkschaftlichen Strategie, Investitionen und Arbeitsplätze zu fördern. Die Dachverbände empfahlen, die im Januar und Juli fällige nominale Erhöhung der Löhne und deren Anpassung an die Steigerung der Lebenshaltungskosten anzusetzen, um eine finanzielle Basis für Verhandlungen über beschäftigungsstimulierende Maßnahmen zu schaffen, insbesondere über eine Verringerung der Arbeitszeit. Die holländischen Gewerkschaften, die durch die steigenden Arbeitslosenzahlen stark beunruhigt waren, überzeugten sich selbst davon, daß eine Verbesserung der Profitabilität der holländischen Industrie die unabdingbare Voraussetzung für jede Strategie sei, deren Ziel wirtschaftliche Erholung und Beschäftigungswachstum ist. Im Austausch dafür nahmen die Arbeitgeber ihre Weigerung zurück, über eine Arbeitswoche von unter vierzig Stunden zu verhandeln. Kurz, das Abkommen ist eine dieser Manifestationen des "Wandels in Politik und Mentalität", der normativen und kognitiven Veränderungen in den politischen Prioritäten und aller dafür erforderlichen Schritte, die wir in Kapitel 1 angesprochen haben. Zweitens ist das Abkommen der erste Schritt im Übergang von einem zentralisierten, aber erfolglosen System kollektiver Verhandlungen zu einem dezentralisierten, aber stark koordinierten System. Das Abkommen ist eigentlich nur eine Empfehlung, aber eine mit großer organisatorischer und normativer Autorität wie wir in diesem Kapitel zeigen werden. Es handelt sich dabei eben nicht um eine zentrale Vereinbarung alten Stils mit rechtlichen Verpflichtungen für die angeschlossenen Gewerkschaften, Mitgliedsunternehmen und Arbeitgeberverbände. Zum damaligen Zeitpunkt beurteilten Beobachter dies als Schwäche, als eine Art von Aderlaß zur Rettung des Konsultationssystems zwischen den Dachverbänden und als Konzession, um den Arbeitgebern die Vereinbarung schmackhafter zu machen, denn die Rezession der achtziger Jahre hatte die Machtverhältnisse zu deren Gunsten verschoben, und die politischen Veränderungen hatten den Gewerkschaften wenig Verbündete übriggelassen (Reynaerts 1985).